Montag, 13. Juni 2016

Aufreger des Tages

Wie geil ist das denn? Die Bahn denkt über sekundengenaue Schließung der Türen nach, um NOCH pünktlicher abfahren zu können. Noch pünktlicher, kaum zu glauben, das wäre ja nicht auszuhalten. Die Warnung der Bahn vorab: wer dann in letzter SEKUNDE (um die geht es ja jetzt, um Sekunden) noch angelaufen kommt, der hat dann ein Problem.
 
Der Fall wird nicht eintreten, soviel ist schon mal sicher, denn jeder bahnfahrende Mitbürger weiß, dass die Bahn ja nicht pünktlich fährt und man eher im Gegenteil immer noch genug Zeit hat, sich in der Stunde Verspätung diverse Brötchen, Kaffee, Zeitschriften etc. zu holen, sich ein Zimmer im Stundenhotel nehmen kann und dann IMMER noch genug Zeit hat, bis der Zug denn fährt.
 
Wenn er fährt.
 
Zumindest bei Zug Nummer Eins der herausgesuchten Zugverbindung hat man also immer Zeit. Danach nicht mehr, denn man bekommt ja die Anschlusszüge nicht mehr. Oder seinen Flieger. Oder sein Date. Oder das Einstellungsgespräch. Oder die Beisetzung der Oma.Whatever.
 
Wenn ich eines gelernt habe, dann dies: wenn es wirklich wichtig ist, also WIRKLICH wichtig, dass man an einem Ort ankommen muss um eine ziemlich festgelegte Uhrzeit, dann nimm niemals die Bahn. Die Bahn kann man nehmen, wenn man abenteuerlich drauf ist und das Risiko liebt. Wenn man im Sommer einen Kühlgenerator dabei hat und im Winter eine Heizdecke. Oder andersrum, das ist genauso gut möglich. Spannung...! Und wenn man generell so Valium-ruhig durchs Leben geht, dass auch Totalausfälle und biestiges Bodenpersonal einen nicht den Glauben an die Menschheit verlieren lassen.
 
Denn eines gibt es immer:
 
TECHNISCHE STÖRUNGEN
 
Gegen die ist man machtlos. Man kann und darf auch nicht meckern, heulen oder fluchen. Sich beschweren und ärgerlich auftreten. Niemals. Denn eine TECHNISCHE STÖRUNG ist naturgegeben nicht zu beeinflussen. Niemand kann etwas tun. Deshalb gibt es auch keine Entschuldigungen bei TECHNISCHEN STÖRUNGEN. Wieso sollte man sich entschuldigen für etwas, an dem man aber SOWAS von unschuldig ist?! Ein neugeborenes Baby, das noch nicht abgenabelt ist, könnte nicht unschuldiger sein als die Bahn an TECHNISCHEN STÖRUNGEN. Also bitte.
 
Die Bahn macht sich also nun Gedanken um Sekunden. Sie können nicht mit Minuten oder Stunden umgehen, aber machen sich Gedanken um Sekunden.
 
Aus gegebenem Anlass mein Aufreger des Tages.

Freitag, 3. Juni 2016

Abschied

Mein Opa ist seit einer Woche im Krankenhaus.

Er ist in seiner Wohnung gefallen und hat zwölf Stunden dort gelegen. Heute kommt er direkt vom Krankenhaus in ein Altersheim ein paar Kilometer von uns, und gestern haben wir dort sein Zimmer wohnlich eingerichtet mit Bildern und seinem Hocker und seinem Teewagen und Deckchen und Lampen.
 
Als wir gestern ohne ihn in seiner Wohnung ein paar Dinge zusammengesucht haben, habe ich in mir drin schon einmal Abschied genommen von all den Möbeln und dem Geruch, der so lange Zeit ein großer Teil meiner Kindheit war.
 
Der Schrank im Schlafzimmer. Früher im Haus meiner Großeltern stand er an einer Schräge, da das Schlafzimmer unter dem Dach war. Hinter dem Schrank war immer noch soviel Platz, dass ein Kind sich dort verstecken konnte oder hinter dran langlaufen. Ich fand das immer aufregend, denn dahinter war es echt dunkel und ich hab es immer wie ein Mutprobe empfunden, in das dunkle Eck zu schlüpfen. IM Schrank lag die Bettwäsche, so fein und ordentlich gebügelt, dass man Kanten drin hatte.
 
Der Toilettentisch. Dort lag immer eine Haarbürste und feine Spitzendeckchen, die von einer Glasplatte vor Staub geschützt wurden. Meine Oma hat sich nach dem Aufstehen immer davor die Haare gebürstet. Und wenn sie grade Diät machte, hat sie sich daneben auf die orange Waage gestellt und das Ergebnis fein säuberlich in ein Heft eingetragen, das auch auf dem Toilettentisch lag. Wieso Omas noch Diäten machen, ist mir ein Rätsel. Ich hoffe, ich hab den ganzen Gewichts-Scheiß hinter mir, wenn ich alt bin und kann einfach ganz in Ruhe fett und runzelig werden.
 
Der Fernsehschrank in der kleinen Stube. Solange ich denken kann, haben wir dort unser Abendessen eingenommen. Währenddessen lief manchmal ein Vorabendprogramm, nix Aufregendes, das gab es damals ja noch gar nicht, einfach irgendwelche unspektakulären Nachrichten. Mein Opa hat neben dem kleinen Esstisch in dem winzigen Raum sein Funkgerät aufgebaut und auf dem Fernsehschrank stand die Kamera, so dass er auch mit Leuten über Funk und mit Bild kommunizieren konnte. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mit auf das Bild, und Opa hat stolz erzählt, dass grade seine Enkeltochter zu Besuch ist. Später hat er stolz erzählt, dass seine Enkelin MIT den Urenkeln zu Besuch ist. Oft hat er auch erzählt, was wir tagsüber unternommen hatten und berichtete von Zoobesuchen, vom Schwimmen, vom Campingplatz.
 
An dem kleinen Tisch wurde gegessen, gebastelt, die Babys gewickelt und in einer kleinen Plastikwanne gebadet, alles an diesem Tisch. Eine dicke Schaumstoffschicht unter der Decke schützte ihn vor Kratzern. Alles im Haus meiner Großeltern hielt ewig und lange und sieht heute noch aus wie neu. Es sind heute dieselben Möbel wie schon vor 40 Jahren.
 
Das Sofa. Wie oft haben unsere Kinder auf diesem Sofa geturnt, sich dahinter versteckt, hat mein Opa sein Mittagsschläfchen darauf gehalten, zwischenzeitlich mal mit zugelaufener Katze auf dem Bauch, hat meine Oma ihre Puppenstrümpfe gestrickt, mit geradem Rücken und ernster Miene.
 
In ihrem Wohnwagen auf dem Campingplatz habe ich wohl meine halbe Kindheit verbracht. Ich habe dort im Sommer schwimmen gelernt und wurde dabei von meinem Opa gefilmt, wie ich mit Anlauf auf das Becken zulaufe, abrupt stehenbleibe und wie ein Frosch hineinspringe. Mein Seepferdchen nähte mir meine Oma auf meinen Badeanzug. Mein Opa brachte mir bei, wie man beim Tauchen die Augen  offen hält, und weil meine Oma im Schwimmbad putzte, konnte ich so manches Mal umsonst rein und nach Herzenslust im Wasser toben, während noch kein Schwimmbetrieb war.
 
Auf dem Dachboden über dem Stall des Hauses stand immer mein Puppenhaus. Unsere Kinder haben es jeden Sommer heruntergeholt und im Garten damit gespielt. Jeden Sommer. In einer alten Zinkbadewanne haben wir uns bei Hitze abgekühlt. Heute steht sie bei uns im Garten und ist mit Blumen bepflanzt. Auf dem Hausboden neben der Treppe oben waren sämtliche Klamotten sortiert, die im Sommer oder Winter keinen Platz in den Kleiderschränken hatten. Weil mein Kleidungsstil in meiner Teenie-Zeit etwas schräg war, wurde ich dort oft fündig und schwatzte meiner Oma eine alte Spitzenbluse ab, eine Satin-Schlafanzughose, ein altes Jackett von meinem Opa, oder einen Wollmantel in Übergröße.
 
Ich habe immer in der Besucherritze zwischen meinen Großeltern geschlafen, bis ich Teenie war und dann ein eigenes Zimmer bei Ihnen bekam. Aber so lange habe ich zwischen ihnen geschlafen und morgens mit ihnen Radio gehört, bis sie nach einer ganzen Weile aufstanden und zwei warme Kuhlen zurückließen, um Frühstück zu machen.
 
All das ist nun vorbei. Ein Leben geht einfach so vorbei. Ein Leben, das so voll war mit Ereignissen, mit Kindern, Enkeln und Urenkeln, mit Urlauben und mit Familienfesten, mit Krankheiten und mit Krisen, mit Glück und mit Liebe. Und davon übrig bleibt eine kleine Wohnung, in der es noch riecht wie früher und ein Zimmer im Altersheim, in der ein paar Bilder von guten Zeiten erzählen.
 
Und Erinnerungen. MEINE Erinnerungen an meine Großeltern. An eine Kindheit, die so voll war von guten Tagen, so voll von Sand und Strand und Sonne und Garten und Äpfeln und gebratenem Fisch mit Salzkartoffeln und Nutella-Broten und Gänseblümchenketten, dass ein Buch nicht ausreichen würde.
 
Danke Oma und Opa.