Mittwoch, 16. Dezember 2020

Jammern verboten

Ich hab lange nichts mehr geschrieben. Dabei hab ich so viele Wörter und Sätze im Kopf, aber immer wieder habe ich verworfen, etwas zu schreiben, weil dieses Jahr alles so unglaublich kompliziert ist.

Nun aber. 

Ich habe in diesem Jahr extrem das Gefühl, dass man nicht mehr jammern darf. Nicht mehr klagen. Nicht mehr traurig sein. Sich niemals beschweren.

Denn dieses Jahr ist das Jahr der Helden. Der Corona Helden. Das Jahr, in dem es mindestens 500.00 Existenzen gibt, denen es auf jeden Fall schlechter geht als dir, du Jammerlappen. Und wenn dir nicht 24/7 die Sonne aus dem Arsch scheint, du undankbares Stück, dann geh mir und dem Rest der Welt wenigstens aus den Augen und jammer woanders weiter. 

Man darf sich nicht mehr beschweren, dass man nicht in den Urlaub fliegen/fahren konnte. Sobald man das tut, kommt die Moralkeule irgendeines Gutmenschen in der Nähe oder aus dem guten alten Social Media und erklärt dir lang und breit, wie undankbar du bist. Auf welch hohem Niveau du klagst und dass es vielen schlechter geht als dir.

Wisst ihr was. Das ist ja mal immer so. Wenn ich zwei Beine beim Unfall verliere, dann gibt es sicher einen, der noch einen Arm dazu verloren hat. Also Fresse halten und lächeln. Dieses Prinzip "Es gibt Menschen, denen geht es schlechter", ist glaube ich jedem klar. Und in einem normalen Denken wird das auch immer wieder Platz haben und man besinnt sich auf das, was man hat und ist dankbar für die kleinen Dinge, die das Leben einem doch so bietet. 

In diesem Jahr ist aber dieses Denken zum neuen Motto erkoren worden und macht dabei jede Traurigkeit, die auftaucht, sofort zunichte. Man DARF nicht mehr traurig sein. Oder verzweifelt. Und das bereitet mir persönlich gerade momentan echte Probleme.

Vor acht Wochen ist mein Vater gestorben. Das ganze Jahr vorher war in dieser Hinsicht extrem beschissen. Langer Leidensweg, Sorgen ohne Ende, keine Nacht ohne Aufwachen und an ihn denken, kein Tag ohne neue Hiobsbotschaften, keine Unbeschwertheit. Alles im Arsch. Ich habe es trotzdem irgendwie hinbekommen zu arbeiten, Leistung zu erbringen, nett zu allen Kunden zu sein. Essen auszurichten, Besuch zu empfangen, Gemüse zu pflanzen, Sport zu treiben. Ich finde, ich hab es ganz okay hinbekommen, zu funktionieren und alle Erwartungen an mich zu erfüllen.  Meinen Part zu leisten in diesem Gefüge aus Familie, Firma und Freunden. Und mich nicht ganz zu verlieren.

Dann starb er also. Nachdem ich tagelang immer wieder gebetet habe, ihn bitte zu erlösen. Jedes Mal, wenn ich mit dem Hund gegangen bin und in die Richtung blicken konnte, wo er wohnte, habe ich versucht, so viele gute Gedanken durch die Luft zu senden, wie ich konnte. Er starb also und es war vorbei. Dachten alle.

Jemand aus meiner Familie fragte mich zweimal nur ein paar Tage nach der Beisetzung, wie es mir ginge und ob ich jetzt nicht sehr erleichtert wäre. Ich dachte mir nur: Kann ich zuerst einfach mal traurig sein? Ist es möglich zu trauern? Es war kein Platz dafür da. Denn das macht man heutzutage nicht mehr. Man kneift gefälligst die verdammten Arschbacken zusammen und besinnt sich auf das, was einem noch geblieben ist. 24/7.

24/7.

Wenn ich erzählte, dass ich traurig bin, hörte ich "Sei froh, dass du ihn hattest. Sei dankbar, dass du ihn beim Sterben begleiten konntest. Sei dankbar, dass er im Kreise der Familie sterben konnte. Sei froh, dass du einen Vater hattest. Sei froh, dass er 73 Jahre alt geworden ist. Sei froh, dass er nun erlöst ist. Sei dankbar, dass er nicht mehr länger leiden musste."

Ich komme nun vor lauter Dankbarkeit nicht mehr in den Schlaf. (Sarkasmus aus)

Ich hätte mir gewünscht, dass jemand einfach sagt "Ist kacke. Es ist einfach kacke, wenn jemand stirbt, den man geliebt hat. Ich kann dich verstehen. Ich fühle mit dir. Es tut mir von Herzen leid." Und dann PUNKT. Und nicht. "AAAAAABER es ist ja besser so. Aber es war ja abzusehen. Aber sei froh, dass....." 

Das Ergebnis dieses neuen Denkens, dieser neuen Art, Sorgen zu begegnen oder Traurigkeit oder Unmut, ist nicht cool. Es führt dazu, dass man sich wie ein Vollversager vorkommt, wenn man diese Gefühle nicht in den Griff bekommt. Andere schaffen das auch, wieso du nicht? Andere jammern auch nicht, wieso du? Andere sind darüber hinweg, wieso schaffst du das nicht? Andere haben es schwerer, wieso jammerst du? Nimm dir ein Beispiel an anderen. Sei wie andere.

Ich glaube aber auch, dass andere auch leiden. Oder gerne mal jammern würden. Oder heulen. Aber sie machen es nicht. Weil man das nicht macht. Nicht in diesem Jahr. 

Ich weiß aber, dass das zumindest für mich nicht gut funktioniert. Meine Wunden, alle Wunden aus diesem Jahr, müssen von innen nach außen heilen. Ich kann nicht ständig neue Pflaster drauf kleben und hoffen, ich muss sie vorerst nicht abziehen. Ich kann auch nicht ständig drauf schauen, wie andere sich Pflaster drauf kleben oder sogar gar keine mehr brauchen.  

Ich bin immer noch unsagbar traurig. Jeden Tag. Nicht jede Minute. Aber jeden Tag. Wenn ich abends mit Balu unterwegs bin, sitze ich immer noch zehn Minuten im Auto, im Dunkeln, und heule. Fast jeden Abend. Niemand sieht mich dabei, niemand versucht, mich zu trösten, oder mir zu sagen "wein doch nicht. Ist doch alles gut." Es ist nicht alles gut. Es wird wieder gut werden, das weiß ich. Aber jetzt gerade ist es das eben nicht. 

Ich würde mir wünschen, dass wir das wieder äußern dürften. Dass es uns nicht gut geht. Gerade jetzt nicht gut geht. Dass sich Traurigkeit und Dankbarkeit nicht ausschließen. Dass man beides zur selben Zeit fühlen kann. Dass wir ehrlich zueinander sind. Dass es nicht verwerflich ist, eigenen Kummer zu haben, obwohl die ganze Welt Kummer hat. Dass Herzen Zeit brauchen, um zu heilen. Dass Dinge Spuren hinterlassen. 

Dass wir nicht alleine sind. 

Denn es gab Tage in letzter Zeit, da habe ich mich so alleine gefühlt wie noch nie in meinem Leben. Dabei habe ich eine großartige Familie und gute Freunde. Aber es gab niemanden mehr, dem ich noch sagen konnte, dass es mir nicht gut geht. Denn das Thema war einfach rum. Acht Wochen später sollte man langsam damit durch sein. Und alle hatten außerdem auch andere Sorgen. Oder Freuden. Und man will einfach nicht da rein grätschen. Also sitzt man im Auto und macht das mit sich selbst ab. 

Das kann man machen. Aber ich weiß nicht, ob uns das alle gemeinsam nach vorne bringt in der heutigen Zeit. 

Daher war ich heute mal so mutig und habe geschrieben. Mal schauen, was das macht.:)))